Am Tag zuvor läuft Raphael Fellmer durch seinen Rettermarkt in Steglitz. Die Regale sind aus hellem Holz gebaut, es gibt eine Ecke mit unverpackten Lebensmitteln und eine ¬Diskussionsecke, in die sich Vordenker unserer Zeit setzen. „Es geht darum, die Geschichte neu zu erzählen“, erklärt Fellmer. „Viele Menschen schämen sich dafür, sich nur abgelaufene Lebensmittel leisten zu können. Aus Mülleimern, von der Tafel oder aus solchen Märkten wie unserem. Wir sagen: ¬Sei stolz, dass du etwas Positives für die Welt tust!“
Fellmer läuft durch die ¬Regale, an denen Schilder stehen, wie viel Euro man bei einem Keksbecher, Fitnessdrink oder einer Chipstüte spart, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Denn natürlich ist der Preis für viele Menschen mindestens genauso wichtig wie der Umweltschutz, um in einen Markt zu gehen, dessen Regale einer Wundertüte gleichen. Man weiß nie ganz genau, was man bekommt. Zwei bis drei Millionen Kilogramm Lebensmittel habe Sirplus bereits vor der Mülltonne bewahrt. Aber rentabel ist das Unternehmen noch lange nicht. „Wir sind hoch verschuldet“, sagt Fellmer und guckt dabei unerschütterlich strahlend. „Wir müssen jetzt das System von innen heraus hacken und können nicht warten, bis wir damit genug Geld verdienen und es uns leisten können. Uns läuft die Zeit davon.“
RETTERSYNDROM
Das Thema Klima erfährt eine neue Dringlichkeit. Seit Greta Thunberg mit ihrem Pappschild schulstreikend vorm schwedischen Parlament saß und sich ihr hunderttausende Jugendliche von Fridays for Future weltweit angeschlossen haben, ist etwas passiert: Immer mehr Wissenschaftler, Journalisten, Aktivisten, Unternehmer und Politiker verstehen, dass sie jegliches Handeln unter den Gesichtspunkt der Klimaverträglichkeit stellen müssen.
Das Prinzip des „Zero Waste“ taucht in diesem Zusammenhang immer häufiger auf: „Die Bewahrung aller Ressourcen mittels verantwortungsvoller Produktion, Konsum, Wiederverwendung und Rückgewinnung von Produkten, Verpackungen und Materialien ohne Verbrennung und ohne Absonderungen zu Land, Wasser oder Luft, welche die Umwelt oder die menschliche Gesundheit bedrohen.“ So definiert das Prinzip die Zero Waste International Alliance im Jahr 2018. Oder einfacher gesagt: Zero Waste bedeutet, keinen Müll mehr zu produzieren, sondern alle Stoffe im Kreislauf zu führen. Seit das Konzept zu Beginn des Jahrtausends aufgetaucht ist, hat es eine erstaunliche Karriere gemacht.
Mittlerweile werben schicke Cafés, Restaurants und Lebensmittelläden damit, keinen Abfall zu produzieren. In der Modewelt wollen hochpreisige Labels keinen Verschnitt produzieren. Initiativen, Unternehmen und Vereine helfen, Reststoffe so lange wie möglich im Kreislauf zu halten, und werden mit Gütesiegeln, Nachhaltigkeitspreisen und Anerkennung überschüttet. Mehrere Städte weltweit haben sich bereits als „Zero-Waste-Citys“ erklärt, darunter auch seit 2019 Berlin. Es scheint, als wäre Zero Waste das neue Vegan: eine Lebensweise, die sich aus der Nische einiger radikal überzeugter Anhänger zum Ideal einer Gesellschaft entwickelt.
UNVERHÜLLT ERFOLGREICH
„Als ich angefangen habe, gab es für das Thema Zero Waste Zero Awareness“, sagt ¬Milena Glimbovski. Sie steht in ihrem zweiten „Original Unverpackt“-Laden in der Großbeerenstraße in Berlin und schaufelt ein paar Löffel Kräutertee in das Sieb einer Glaskanne, gießt heißes Wasser auf und setzt sich auf einen Stuhl. Hinter ihr stehen Brotbüchsen aus Metall, ¬Klobürsten aus Holz, loses Toilettenpapier, Reinigungsmittel in Kanistern zum Selbst¬abfüllen, Menstrua¬tionstassen, Holzbleistifte. Es duftet nach Trockenfrüchten und Papier. Dass Menschen mittlerweile in über 100 Läden in Deutschland plastikfrei einkaufen können, ist zu großen Teilen ihr Verdienst. Glimbovski war zwar nicht die Erste, die versucht hat, keinen Restmüll mehr zu hinterlassen – da waren die Amerikanerinnen Bea Johnson und Lauren Singer eher da, die die Botschaft der fünf R in die Welt trugen: Refuse (lehne verpackte Produkte ab), Reduce (reduziere den Haushalt und bringe Kleidung, Möbel, Geschirr wieder in den Umlauf), Reuse (nutze Dinge so lange wie möglich), Recycle (trenne deinen Müll sorgfältig, damit er in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden kann), Rot (kompostiere abbaubare Reste im Garten, in der Wurmkiste oder über den Biomüll). Aber sie jeden Tag umzusetzen, braucht Infrastrukturen. Im Internet erklärten Frauen in Tutorials, warum zum Wäschewaschen auch Waschkastanien taugen oder wie man aus verbrannten Mandeln, Vaseline und Stärke selbst Wimperntusche herstellen kann. Einfacher wäre es natürlich, wenn man faire, unverpackte, biologische Produkte fertig einkaufen könnte.
„Als ich angefangen habe, gab es für das Thema Zero Waste Zero Awareness“
Milena Glimbowski, Original Unverpackt