1. September 2023 I Ausgabe 23

Jenseits der Stille

Jenseits der Stille rechteck
Foto: Nadine Kunath

Endlich! Nach drei Jahren Zwangspause wieder Partys, Livemusik, Theater, Ausstellungen, Vereinsleben. Doch können wir einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben? Wir haben Menschen getroffen, die „Nein“ sagen – und sich dafür einsetzen, den Neuanfang nachhaltig zu gestalten.

Am 22. März 2020 fielen die Vorhänge. Clubtüren und Museumstore schlossen sich und blieben verriegelt. Und statt Fangesängen dröhnte in Stadien die Stille. Nur wenige Bereiche des Lebens in der Hauptstadt wurden von der Coronapandemie derart ins Herz getroffen wie der Kulturbetrieb und die Veranstaltungsbranche. Denn egal ob Oper oder Rockkonzert, Vernissage oder Fußballturnier: Ein Erlebnis wird daraus, weil Menschen zusammenkommen, sich begegnen, oft auch berühren. Abstand halten? Nur bedingt möglich. Heute, im Jahr eins „nach“ Corona, ist da einerseits große Erleichterung: endlich wieder ausgehen, Nächte durchtanzen, gemeinsam Sport treiben oder anderen dabei zuschauen, Bands und Orchestern zujubeln, sich vom Theaterensemble anrühren oder von Ausstellungen inspirieren lassen. Andererseits sind da auch Zweifel: Lässt sich wirklich nahtlos an das „Davor“ anknüpfen? Die Welt heute ist eine andere. Die Realitäten der Energie- und Klimakrise machen auch vor unserer Freizeitgestaltung nicht Halt.

All diese so unterschiedlichen Disziplinen eint, dass sie eine Superkraft haben. Die Superkraft, Menschen zusammenzubringen, gemeinsame Erlebnisse zu erschaffen – aber auch den Horizent einer und eines jeden Einzelnen zu erweitern.

Beispiel Festivalsommer. Die mehrtägigen Musikevents finden häufig im Niemandsland „auf der grünen Wiese“ statt. Die fehlende Infrastruktur hat ohne Frage ihren Charme, wird aber zum Problem, wenn dafür Dieselgeneratoren, Chemie-Klos, Einwegbecher und Co. zum Einsatz kommen. Auch die Festivalbesucher:innen bringen nicht nur gute Laune mit, sondern meist auch Konserven und Getränkedosen, billige Zelte, Matratzen, Klappstühle oder gar Kühlschränke. Ist die letzte Zugabe verklungen, landet nur ein Teil davon wieder im Gepäck: Die Plattform „Green Music Initiative“ schätzt, dass etwa 30 Prozent der Festivalgänger:innen ihre Zelte nicht mit nach Hause nehmen. Im Jahr 2019 blieben nach Rock im Park rund 300 Tonnen Müll zurück, beim Wacken Open Air sogar 590 Tonnen. Aber nicht nur Festivals hinterlassen Spuren: In Berlin kommt jedes Jahr bei öffentlichen Veranstaltungen rund 1.600 Tonnen Abfall zusammen. Allein beim Berlin-Marathon werden den Läufer:innen etwa eine Million Einweg-Plastikbecher gereicht.

Doch was ist mit der bildenden Kunst? Gemälden? Oder Museumsexponaten? Die hängen oder stehen doch nur unschuldig in ehrwürdigen Hallen herum? Jein. Stefan Simon, Direktor des Rathgen-Forschungslabors, errechnete 2021, dass allein die Häuser der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu denen beispielsweise die Staatlichen Museen zu Berlin gehören, im Jahr 70 Millionen Kilowattstunden Energie allein für Strom und Klimatisierung verbrauchen – ein Wert, der dem CO2-Ausstoß von rund 120.000 Flügen zwischen Zürich und London entspricht. In einem Pilotprojekt hat die Kulturstiftung des Bundes die Umweltauswirkungen von 19 deutschen Kulturinstitutionen, darunter die Berliner Schaubühne sowie das Konzerthaus, durchleuchtet – vom Energie- und Wärmeverbrauch über Abfall oder Papierbedarf bis hin zur Mobilität der Mitarbeiter:innen und Besucher:innen. Im Schnitt bilanzierten die Häuser 1.073 Tonnen Treibhausgasausstoß fürs Jahr.

Klar ist: Keine Kultur ist auch keine Lösung. Genauso wie keine Kunst, keine Musik, kein Profi- und Breitensport. Denn, und hier sind wir wieder am Ausgangspunkt: All diese so unterschiedlichen Disziplinen eint, dass sie eine Superkraft haben. Die Superkraft, Menschen zusammenzubringen, gemeinsame Erlebnisse zu erschaffen – aber auch den Horizont einer und eines jeden Ein-zelnen zu erweitern. Die Bedeutung dieser Superkraft für unsere Gesellschaft lässt sich nicht allein in Kilowattstunden, anhand on Abfallaufkommen oder CO2-Äquivalenten bemessen. Aber klar ist auch: So wie jetzt kann es nicht weitergehen.

Die gute Nachricht: Viele Menschen und Institutionen haben sich bereits auf den Weg gemacht. Beweisen, dass es anders geht. Und dass ökologische Verantwortung keine Spielverderberin sein muss. Der Berliner Gropius Bau etwa zeigte im Sommer 2020 die Ausstellung „Down to Earth“. Die Materialien waren zum größten Teil recycelt, die Ausstellungsräume kamen ohne Lautsprecher und ausschließlich mit Tageslicht aus, die beteiligten Künstler:innen verzichteten auf Flugreisen. Im Sommer 2021 probte die Band SEEED zusammen mit der Berliner Hochschule für Technik und der Agentur „The Changency“ in der Berliner Wuhlheide, wie ein grünes Konzert aussehen kann: unter anderem mit bewachten „Fahrrad-Garderoben“, Wasserspendern für die Crew, LEDs für die Bühnenshow sowie Taschenaschenbechern, die 3.250 Zigarettenstummel daran hinderten, potenziell 3,25 Millionen Liter Grundwasser zu verschmutzen.

Kann man die Welt um sich vergessen – und trotzdem an die Umwelt denken? 

Im Rahmen des ähnlich angelegten Pilotprojekts „Labor Tempelhof“ verwandelten die Punkrockbands Die Ärzte und Die Toten Hosen das Tempelhofer Flugfeld in Berlin in ein riesiges Versuchsareal für nachhaltige Open-Air-Events – inklusive Humus-Toiletten. Der Weg ist noch weit. Aus Pilotprojekten muss Normalität werden. Der Gaststar Nachhaltigkeit muss zum festen Ensemblemitglied avancieren. Die Voraussetzungen dafür könnten schlechter sein: Denn wo sonst, wenn nicht im Rampenlicht, auf den großen Bühnen oder Tanzflächen, in Ausstellungshäusern oder Stadien, hätte ökologische Verantwortung die Chance, eine derartige Strahlkraft zu entwickeln? Menschen zu berühren und sie im wahrsten Sinne des Wortes zu bewegen, auch in ihrem Leben etwas zu verändern? Die Zeit für den zweiten Akt ist gekommen. Vorhang auf!