1. September 2023 I Ausgabe 23

Nachtzug nach Basel

Carolin Leistenschneider ist Mitbegründerin der Berliner Untergruppe der „Gallery Climate Coalition“, deren Mission ist, die Kunstszene nachhaltiger zu gestalten.

Leistenschneider hochformat
Foto: David Freudenthal / ressourcenmangel

Ein Erdgeschoss in Berlin-Charlottenburg. Das Fischgrätparkett knarzt ein wenig, bunte Gemälde bringen die Räume zum Leuchten, Acryl- und Ölfarben zeigen Berge und Küsten, Blüten im Regen oder Schnee, der auf Gräser fällt. Das ist das Reich von CAROLIN LEISTENSCHNEIDER. Hier, in ihrer Galerie, könnte man die Welt da draußen leicht vergessen. Doch die 43-Jährige befasst sich mit den handfesten Problemen unserer Zeit. Sie ist Mitbegründerin der Berliner Untergruppe der „Gallery Climate Coalition“ (GCC), die es sich zur Mission gemacht hat, die Kunstszene nachhaltiger zu gestalten. Dass etwas gehörig schief läuft im Kunstbetrieb, das spürt die gebürtige Saarländerin schon in Ausbildungszeiten. Jede Messe gleicht einer Materialschlacht: „Die Verpackungen der Kunstwerke, rollenweise Luftpolsterfolie und eigens angefertigte Holzkisten – nach einmaligem Verwenden wurde vieles davon einfach entsorgt.“

Besonders ins Gewicht der Umweltbilanz des Kunstbetriebs fällt das Reisen: Galerist:innen fliegen zu Messen, in andere Ausstellungshäuser, zu Auktionen. Sie organisieren die Besuche von Kunstschaffenden und den Transport ihrer Werke. Aus der ganzen Welt, in die ganze Welt. Bilder, Skulpturen oder Installationen fliegen für eine Ausstellung, die wenige Wochen dauert, nicht selten um den halben Erdball. Natürlich sicher verhüllt, eingewickelt, abgedämpft mithilfe von sehr viel Plastik. Als Carolin Leistenschneider im September 2020 zusammen mit Philipp Haverkampf eine eigene Galerie gründet, ist für sie klar: „Ich mach das anders.“ Der Zufall will es, dass ihr Start in die Selbstständigkeit mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, als sich in London namhafte Galerien unter dem Dach der „Gallery Climate Coalition“ zusammenschließen. Ihre Ziele: Abfall so gut wie komplett vermeiden und die CO2-Emissionen des Kunstbetriebs bis 2030 mindestens halbieren. Die studierte Kunsthistorikerin ist sofort Feuer und Flamme – und aus einem Zoom-Call mit Gleichgesinnten wird bald „GCC Berlin“. Mittlerweile gibt es in der Hauptstadt rund 100 GCC-Mitstreiter:innen und es entstand eine Webseite, auf der sich Mitglieder zum Beispiel ihren CO2-Fußabdruck ausrechnen oder sich über nachhaltige erpackungsmaterialien informieren können. Derzeit sei GCC Berlin dabei, einen Verein zu gründen, um Fördermittel beantra-gen und so noch besser auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten zu können: „Wir wollen eine starke Community aufbauen und das breite Know-how, das GCC London generiert, auch hier bis ins letzte Eckchen tragen“, so Leistenschneider.

70 Millionen Tonnen COverursacht der weltweite Kunstmarkt pro Jahr durch Besucher:innenreisen, Energieverbrauch von Gebäuden, Kunstversand sowie Arbeitsreisen.*

Ihr beruflicher Alltag spiegelt ihr Engagement: Die Galerie bezieht „Kunststrom“ aus dem E-Werk Luckenwalde – Ökoenergie, die von Kunstinstallationen erzeugt wird. Die Galeristin und ihr Geschäftspartner sind innereuropäisch mit dem Zug unterwegs, auch Kunsttransporte werden bestmöglich gebündelt und verschifft, statt sie per Luftpost zu versenden. Die dafür angefertigten Kisten werden weiter genutzt oder an eine Tauschbörse gespendet. Das viel genutzte Klebeband hat Carolin Leistenschneider durch eine umweltfreundlichere Kautschuk-Alternative ersetzt, Luftpolsterfolie bewahrt die Galerie auf und verwendet sie wieder. Platz zum Lagern ist jetzt da: Denn Kataloge werden nur noch in geringer Stückzahl gedruckt. Und die Künstler:innen? „Die finden toll, was wir machen, und die meisten sind offen dafür, ihre Reisen auch mit dem Zug zu unternehmen.“ Da fällt ihr ein: Sie muss noch den Nachtzug zur Art Basel buchen.